Papi liebt Fussball. Vor allem, wenn er im Fernsehen kommt. Während der Fussball-WM ist er kaum ansprechbar. Wenn ich was anderes sehen will, den Kinderkanal oder so, bleibt er stur. Meine Schwester und ich nennen ihn deshalb nur noch Gianni.

Ich mag Zeichentrickfilme. Da geschehen oft sauwitzige Dinge. Unmögliches. Sachen, die im echten Leben kaum möglich wären. Das war meine Überzeugung vor dieser Fussball-Weltmeisterschaft. Frau Müller - unsere Lehrerin - die versuchte mal zu erklären, wie das mit dieser Weltmeisterschaft funktioniert. "Fussballspielen ist zum Beispiel die Schule", so begann sie. Kevin rief dazwischen, dass das nicht stimmen kann, denn Fussballspielen liebe er, Schule aber nicht. Frau Müller versuchte Kevin zu ignorieren. Dieser insistierte: "In die Schule muss man. Fussballspielen muss man nicht!" Die meisten in der Klasse nickten und schlugen sich auf Kevin's Seite. Frau Müller stand da - etwas im Abseits um beim Thema zu bleiben - und sie bekam dieses kleine Zucken im Augenlid. Das hat sie immer, bevor sie laut wird, oder kurz vor einem kleinen Wutausbruch steht. "Es ist ja nur ein Beispiel!" betonte sie etwas zu laut und Nora begann zu weinen. Nora weint immer, wenn jemand laut wird. Als gestern Rektor Weber in die Klasse kam und ein gut hörbares "Sali zähme" in den Raum schmetterte, bekam Nora einen Weinkrampf. Das war dem Rektor so peinlich, dass er Frau Müller um was Schriftliches bat, damit Nora's Eltern nicht behaupten konnten, er hätte ihre Tochter angefahren, oder so. Aber ich bin etwas abgeschweift, wie oft die Penalty's der Schweizer Nationalmannschaft über oder am Tor vorbei-"schweifen". Das war mal ein origineller Vergleich, was?
Frau Müller konzentrierte sich und begann von Neuem. "Nehmen wir an, ihr alle sitzt in einem grossen Sandkasten. Ihr seid Fussballnationen und ich bin die FIFA!" Klar konnte Kevin da nicht seine Klappe halten. "Genau! Sie sind wie die FIFA. Sie bestimmen und hören nicht auf uns und wir müssen alles tun, was sie sagen!" Die Zustimmung der Klasse war Kevin wieder sicher. Frau Müllers Zucken war nun sicherlich auch in den hinteren Reihen der Klasse sichtbar. "Was ich damit sagen will", fuhr Frau Müller fort, "es braucht eine übergeordnete Organisation, um so viele Kinder in einem Sandkasten zu beaufsichtigen und zufrieden zu stellen!" Kevin konnte sie damit schon mal nicht zufrieden stellen. "Wir wissen doch besser, was wir wollen, da brauchen wir doch sie nicht, die draussen steht, keine Ahnung von uns hat, aber bestimmt, wer was machen darf und wer nicht!" Applaus füllte das Zimmer. Lauter Applaus. Nora begann zu schluchzen. Frau Müller sah aus, als ob sie gleich das selbe tun würde. Aber sie riss sich zusammen. "In einer Demokratie", begann sie, "kann man nicht jeden zufriedenstellen, man stellt die Mehrheit zufrieden!" Kevin stürmte regelrecht in diese Diskussion und man spürte, dass sein Papi irgendwas mit Politik machte. "Demokratisch wäre es, wenn wir im Sandkasten gefragt würden, was wir wollen! Vielleicht wollen wir ja gar nicht in den Sand? Vielleicht wollen wir wohin, wo es angenehmer ist? Aber die FIFA fragt uns ja nicht, sondern bekommt Geld dafür uns zu sagen, was wir wollen!" Die La Oma-Welle erreichte Frau Müller, die an ihr abprallte. "Die FIFA Mitglieder durften wählen, wo die WM stattfindet. Das ist demokratisch!" Kevin stand bereits auf dem Stuhl. "Demokratie gibt es nicht!" Frau Müller zuckte nun beinahe am ganzen Körper. "Wie kommst du aus einen solchen Blödsinn?" wollte sie von Kevin wissen und baute sich vor ihm auf. Ich kenne Kevin's Vater nicht, aber ich vermute dass er bei der SVP ist, so wie Kevin seine Argumente präsentierte. "Etwas als Blödsinn zu diffamieren, bevor man sagen konnte was man sagen wollte, das ist höchst undemokratisch. Frau Müller, sie versuchen hier meine Argumentation lächerlich zu machen!" Ohne dass Frau Müller was hätte sagen wollen fuhr Kevin fort. "Demokratisch wäre es, wenn alle Menschen eine Stimme hätten. Demokratie ist aber nur was für Reiche Staaten. Die können sich sowas leisten. Um Demokratisch sein zu können braucht es Geld für Abstimmungen und Wahlen und es braucht Menschen, die eine ausgewogene Bildung geniessen konnten. Dort wo das nicht zutrifft, wird es nie Demokratie geben!" Kevin's Stimme überschlug sich gegen Ende seines Vortrages. Er unterstrich seine Rede damit, dass er immer etwas lauter wurde. Das war auch nötig, denn Nora's Schluchzen war unterdessen ein kleiner Weinkrampf. Frau Müller atmete schnell. Sie schloss die Augen und ballte die Fäuste. Dann sagte sie ganz leise: "Wir beenden hier das Ganze!" Kevin war noch in seinem Element. "Frau Müller, sehen sie was ich meine, sie bestimmen schon wieder!" Frau Müller sagte mit zittriger Stimme: "Gut. Wir stimmen demokratisch ab. Wer dafür ist, dass wir - obwohl es erst 9.30 Uhr ist - bereits Schulschluss machen, der erhebe seine Hand."
Innert weniger Hundertstelsekunden schossen unsere Hände gegen den Himmel. Wahl einstimmig angenommen! Super. Demokratie ist cool.
Zu Hause angekommen zapfte ich am TV rum und suchte meinen Kinderkanal. Papi kam dazwischen, nahm mir die Fernbedienung weg und schaltete SF Sport ein. "Es kommt Fussball!" Ich baute mich vor Papi auf, so wie es Kevin in der Schule vor Frau Müller tat. "Wollen wir das nicht demokratisch klären? Ich bin für eine Abstimmung!" Papi schaute mich etwas verwirrt an. "Abstimmung? Es gibt Sachen, über die nie abgestimmt werden. Und das hier ist so eine Sache! Hier hast Du einen Fünfliber, hol dir doch am Kiosk was Feines" Er setzte sich vor den Fernseher und begann den Match zu schauen. Kevin hatte Recht. Demokratie kostet Geld.
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