Papi ist so peinlich

Elternabende sind für die meisten Eltern Pflichttermine. Man muss hingehen. Erstens wurde man dazu eingeladen, zweitens wird es erwartet, dass man hingeht und drittens würden die Eltern so aus nächster Nähe und völlig direkt erfahren wie es um ihre Schützlinge steht. Die Kinder dürfen da nicht hin. Lange habe ich vermutet, dass wir so nicht mitbekommen sollten was man über uns so spricht. Seit Papi aber die letzten Male einen Stuhl und zwei Tische kaputt gemacht hat, glaube ich, mir soll die Peinlichkeit erspart werden, deswegen muss ich zu Hause bleiben. Vielleicht muss ich das erklären. Papi ist nicht gerade das, was man "schlank" nennen würde. Er ist auch nicht "dick", er ist einfach... schwerer als die Möbel in unserem Schulzimmer. Das wissen wir nun, seit er diesen Stuhl und einen Tisch auf den Sperrmüll verholfen hat. Die Schulleitung hat reagiert und seither werden extra Stühle aus der Turnhalle in die Zimmer gebracht, wo sich die Eltern im Kreis hinsetzen können. Irgendwie war ich danach beruhigt. Papis "Wandalenakt" war lange Thema auf dem Pausenhof. "Bist du nicht die Tochter dieses Hooligans?" fragte man mich ständig. Andere meinten, dass ich einen coolen Papi hätte und fragten, ob sie ihn für ihren Elternabend ausleihen könnten. Dass es nun richtige und stabile Sitzgelegenheiten gab, beruhigte mich und liess mich hoffen, so aus dem allgemeinen Spott-Fokus der Schule zu treten. Allerdings kenne ich ja meinen Papi. Schon ein paar Jahre. Ich weiss zu was er alles fähig ist. Leider kenne ich ihn so gut, dass ich hätte ahnen können, dass er wieder voll ins Fettnäpfchen tritt.
Frau Müller unsere Lehrerin ist Vegetarierin. Oder Veganerin, oder was anderes. Wie nennt man diese Menschen, die kaum was essen? Nichts von einem Tier, auch wenn es nicht dafür sterben musste. Nichts von einer Pflanze, wenn sie es nicht selber abgestossen hat und nichts was nicht Bio ist oder aus fairem Handel stammt. Egal. Es ist kompliziert. Frau Müller sieht man an, dass sie sich speziell ernährt. Wenn ich ehrlich bin, sieht man ihr an, dass sie sich kaum ernährt. Man hat bei ihr immer das Gefühl, ihre Kleider wären noch im Kleiderschrank am Bügel aufgehängt. Wenn sie vor der weissen Leinwand steht, erkennt man nur ihre dunkeln Augen und wenn wir lüften, dann muss sie sich an ihrem Pult festklammern. Kevin sagte mal in der grossen Pause: "Wenn Frau Müller am Rhein entlang geht, dann wird sie von den Vögeln gefüttert." Kevin ist gemein, aber irgendwie fand ich seinen Witz auch lustig. Diese Frau Müller lud also wieder zum Elternabend ein. Ich versuchte über Wochen Mami einzureden, dass es viel effizienter wäre, wenn nur sie diesen Elternabend besucht. "Warum opfert ihr beiden einen freien Abend? Das macht doch keinen Sinn. Es reicht doch, wenn du alleine da hin fährst, oder?" Wochenlang. Beim Frühstück und beim Abendessen wiederholte ich die Sinnlosigkeit eines Doppelbesuches des Elternabends. Und tatsächlich zeigte meine Beharrlichkeit Wirkung. Leider umgekehrt. Mami blieb zu Hause und Papi ging alleine. Und was dann geschah hätte man sich nicht vorstellen können, aber irgendwie war es nicht überraschend.
Papi kam zu spät. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass es auch nicht ganz einfach ist, unser Klassenzimmer zu finden. In diesem grossen, verschachtelten und unübersichtlichen Schulhaus-Komplex kann man schon mal die Orientierung verlieren. Es gibt doch diese Sage von einem Gespenst im "Belchen-Tunnel". Und bei uns im Schulhaus sagt man, irrte auch seit vielen Jahren ein Geist eines Schülers umher, der einfach nie den Ausgang findet. Papi fand schliesslich das Schulzimmer. Er trat ein und stürmte auf Frau Müller zu. Er nahm eine ihrer Hände, die schlapp am Arm baumelten und schüttelte sie. So heftig, dass Frau Müller auseinander fiel und sich ihre Einzelteile auf dem Boden verstreuten. Papi hatte Frau Müller mit unserem Schul-Skelett "Paul" verwechselt. Sie stand nur knapp daneben.
"Knapp daneben", witzelte Mami am anderen Morgen als sie mir und meiner Schwester Papis neuste Peinlichkeit besprach. Schlagartig hatten wir Halsschmerzen und einen Fieberschub. Auch ohne Fiebermessen durften wir zu Hause bleiben und den ganzen Tag den Kinderkanal schauen. Mami wollte uns die vielen Kommentare auf dem Pausenplatz ersparen. Am Abend als Papi wieder von der Arbeit kam entschuldigte er sich bei uns. "Zum nächsten Elternabend geht Mami, das verspreche ich euch. Gerade habe ich Papis Aussage in einem Vertrag festgehalten, den er mir morgen unterschreiben muss, denn das will ich schriftlich!