Diplomat

Veröffentlicht am 19. Januar 2023 um 10:25

Obwohl unsere Lehrerin Frau Müller fast nie was Essbares in den Mund nimmt, wollte sie von uns wissen, was ein Diplomat sei. Ich dachte nur für mich, sie würde gescheiter mal was essen, statt über Essen zu sprechen. Aber so sind Lehrerinnen, nicht logisch.

Frau Müller, unsere Lehrerin ist dünn. Sehr dünn. Ich glaube, sie hat Angst vor dem Essen, denn man weiss nie genau was in Lebensmitteln drin ist und darum könne man nicht einfach etwas essen. Das sei gefährlich. Papi meinte mal, dass man wisse, was in Frau Müller nicht drin ist; ein Hirn. Aber das ist ein anderes Thema. Papi mag Frau Müller nicht besonders. Hmmm... wie komme ich jetzt drauf? Achja, stimmt. Frau Müller fragte uns: "Wisst ihr was ein Diplomat ist?" Ich streckte auf, denn ich war mir sicher es zu wissen. "Ein ganz leckeres Dessert!" Frau Müller schien es übel zu werden. Sie wurde ganz blass und näherte sich immer offensichtlicher dem Papierkorb neben ihrem Pult. "Nicht das Dessert..." würgte sie raus und erklärte mir und der Klasse, dass sie den Beruf meinte. Ich war sehr erstaunt. Diplomat konnte man von berufswegen sein? Ein professionelles Dessert? Traumhaft. Frau Müller nahm langsam wieder die Farbe der vergilbten Wände im Zimmer an und erklärte, was aus ihrer Sicht ein Diplomat sei. "Diplomaten sind Regierungsbeauftragte, die ihre Staaten auf Regierungsebene gegenüber anderen Staaten vertreten." Frau Müller hätte auch nur "Bla-bla-bla" sagen können, es hätte auf mich die selbe Wirkung gehabt. Sie führte daraufhin einen langen Monolog, stellte ab und zu ein paar Fragen, die aber alle unbeantwortet blieben und schliesslich beendete der Pausengong ihren Sprechdurchfall.
In der grossen Pause lief ich schnell rüber zur Konditorei. Ich musste unbedingt ein Diplomat haben, denn sonst würde ich bis zur Mittagspause kaum durchhalten. Ich kaufte gleich vier. Frau Müller sagte in ihrer "Rede", dass Diplomaten nie alleine auftreten. Dort wo ein Diplomat sei, wären auch noch mehrere davon. Dem musste ich Rechnung tragen.
Beim Mittagessen staunte Mami, dass ich keinen Appetitt hatte. "Wir hatten ein nahrhaftes Thema", erklärte ich und weil Papi ganz viel weiss, fragte ich ihn, was ein Dipolmat sei. Auch ihm kam zuerst das Dessert in den Sinn. Ein Vaterschaftstest würde also nie nötig sein, ich bin seine Tochter, definitiv. Als ich ihm erzählte, dass Frau Müller aber den Beruf meinte, legte er los.
"Ach diese Diplomaten meinst du?" Ähnlich wie bei Frau Müller folgte daraufhin ein langer Monolog. Ich weiss nicht mehr genau alles, was Papi sagte, aber Stichworte wie "Lügenbande", oder "Profi-Schummler" und "Schönschwätzer" blieben hängen. Diplomaten sind also, das ist Papis Meinung, Menschen die dafür bezahlt werden, andere Menschen anzulügen, die dann zurücklügen und alle wüssten das, tun aber so als ob sie es nicht wüssten. "Diplomatie ist die Kunst jemandem in die Fresse zu hauen und es wie ein Streicheln aussehen zu lassen!" Papi war wütend. Wieso wusste ich nicht. Ein Diplomat-Dessert hätte ihn sicherlich wieder beruhigt. Leider hatte ich meine vier schon aufgefuttert.
Am Nachmittag war Turnstunde. Ein neuer Sportlehrer übernahm für unseren alten Lehrer. Er hatte einen Hindernisparcour aufgebaut und wir sollten diesen so schnell wie möglich überwinden. Ich war als Letzte an der Reihe und als ich fertig war, waren die anderen bereits schon lange gegangen und draussen wurde es bereits dunkel. Der junge Sportlehrer meinte danach: "Deine fehlende körperliche Kompetenz machst du wett mit deiner Verbissenheit, das was du tust möglichst sorgfältig zu tun!"
Ich schaute ihn an und sagte: "Sie meinen ich sei zu fett?" Schlagartig wusste ich, was ein Diplomat ist.

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